Was wirklich zählt
Aus aktuellem Anlass dachte ich viel über schlechte Laune nach. Das heißt nicht, dass ich sie hatte. Ich hatte seit etwa zwei Jahren nicht mehr wirklich schlechte Laune. Nicht diese Art von schlechter Laune, wie man sie als Pubertierender entwickeln kann, in der man die Welt, den Konsum, Verwandte und Kätzchen hasst. Aber als ich jünger war, hatte ich viel davon. Ich war ein unausstehlicher Jugendlicher, misantropisch und pessimistisch. Mein Bewertungsspektrum reichte von „kotzt mich total an“ bis „nicht so schlecht, wie ich erwartet hatte“. Das ging so bis zu meinem Abitur. Dann weiß ich nicht, was passiert ist. Entweder es waren banale Sachen – ich konnte von zuhause ausziehen, ich beendete die Schule, ich habe eine Therapie zuende gebracht – oder es war genau jener magische, einzigartige Moment, den ich erlebte, als ich „Krieg und Frieden“ von Tolstoj las. Es war der Abend vor meiner Mathematik-Klausur. Ich fürchtete Mathe schon immer und war ziemlich aufgelöst. Ich las in dem Buch. Fürst Andrej Bolkonskij war in der Schlacht von Borodino bei den Reservetruppen, ging auf und ab, pflückte Ästchen von Büschen, roch daran, vertrieb sich die Zeit. Eine Granate sauste auf ihn hernieder und riss ihn hinfort. Und es ist der Fürst Bolkonskij, von dem wir sprechen. Ich habe geweint. Ich dachte: „Er ist tot. Er ist entgültig tot, alles was ihn ausgemacht hat, alles was er war, ist...
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